Ein Mann kam zu Szabó dem Schneider und probierte seinen neuen Anzug an. Als er sich vor den Spiegel stellte, fiel ihm auf, dass der Saum der Weste an einer Seite ein bisschen schief war.

„Oh“, sagte der Schneider, „das soll uns gar nicht weiter kümmern. Hier, sie ziehen das kürzere Ende einfach mit der linken Hand nach unten, dann sieht niemand den Unterschied.“

Während der Kunde die Weste nach unten hielt, fiel ihm auf, dass das Revers der Jacke sich herunterrollte, anstatt flach zu liegen. „Oh, das?“ rief der Schneider. „Das ist nicht der Rede wert. Sie neigen den Kopf ein wenig zur Seite und drücken den Kragen mit dem Kinn nach unten. So…ja. Wunderbar!“

Der Kunde tat, wie ihm geheißen, aber dann merkte er, dass der Schritt der Hose ein bisschen knapp und der Hosenbund zu hoch geschnitten war.

„Ach, das macht doch nichts“, meinte der Schneider. „Sie ziehen den Schritt einfach mit der rechten Hand ein wenig nach unten, und dann ist alles in bester Ordnung.“ Der Mann stimmte zu und kaufte den Anzug.

Am nächsten Tag humpelte der Mann in seinem neuen Anzug durch den Stadtpark: Kinn schräg auf dem Revers, die linke Hand an der Weste zerrend, die rechte am Schritt der Hose; bei seinem Anblick hielten zwei alte Männer in ihrem Schachspiel inne und schauten sich an, wie merkwürdig er sich fortbewegte.

„O mein Gott“, murmelte der eine. „Schau dir den armen Krüppel an…“

Der zweite starrte dem Humpelnden sinnend nach und sagte: „Ja, dass ein Mensch so verwachsen ist, kann einem leid tun. Ich frage mich nur, wo er den schicken Anzug her hat.“

(aus „Die Wolfsfrau“ von Clarissa Pinkola Estés)

Wir alle haben mindestens einen Anzug vom Schneider Szabó in unserem Schrank hängen. Einige von uns tragen ihn täglich, andere zu bestimmten Anlässen. Das Bedürfnis, nach außen gut da zu stehen und den gesellschaftlichen und zwischenmenschlichen Normen und Regeln zu entsprechen, egal wie sehr wir uns innerlich dafür verrenken müssen, dürfte jedem vertraut sein.  

Vielleicht fallen dir spontan bestimmte Situationen ein, wo du gezielt in den Schrank greifst und dir einen Anzug herausnimmst. Das ist auch nicht zwangsläufig etwas schlechtes. Wir haben uns mit der Zeit so daran gewöhnt und fühlen uns in diesem Anzug sicher. Er ist zu unserer zweiten Haut geworden und hilft uns, schwierige Situationen leichter durchzustehen. Auf der anderen Seite suggeriert er uns allerdings, dass es notwendig sei, sich für Erfolg, Ansehen, Wichtigkeit, eine funktionierende Partnerschaft oder Karriere in eine Haltung zu zwängen, die im Grunde nicht unserer eigenen entspricht. 

Das Schlimme daran ist jedoch, dass unsere Umwelt unsere verkrüppelte Haltung deutlich wahrnimmt, es allerdings zum guten Ton gehört, darüber hinweg zu sehen, zu schweigen oder noch schlimmer, es zu verharmlosen. Letztendlich wollen wir aber auch nicht darauf aufmerksam gemacht werden. Denn tief in unserem Inneren spüren wir die Diskrepanz zwischen dem, wie wir wirklich sind und sein wollen und dem, wie wir zu sein haben. So wirkt der Anzug wie ein Deckel auf einem Vulkan, der durch Bemerkungen von Außen zum Ausbruch gebracht werden kann. Wir lernen zu pauschalisieren, zu bagatellisieren, abzustreiten, zu verharmlosen oder auszuweichen, nur um ja nicht mit unserer Wunde konfrontiert zu werden und den Vulkan ausbrechen zu lassen. 

Viel öfter greifen wir jedoch unbewusst in den Schrank und holen uns den Anzug heraus, weil wir es einfach gewohnt sind. Es passiert ganz automatisch ohne das wir groß darüber nachdenken. Schließlich wurden wir im Laufe unseres Lebens darauf konditioniert, es möglichst allen recht zu machen, bloß nicht aufzufallen und immer schön brav alles zu tun, was gesellschaftlich anerkannt ist. So wissen wir oft gar nicht von den vielen kreativen Ideen und Talenten, die tief in uns schlummern.

Von unseren Eltern haben wir von Klein auf gesagt bekommen, wie wir uns zu benehmen haben, was wir machen dürfen und was nicht. Wir haben schon sehr früh erkannt, was und wie wir die Dinge machen müssen, um Bestätigung und Anerkennung aus unserem Umfeld zu bekommen, denn die persönliche Aufmerksamkeit und Beachtung stellt ein tiefes menschliches Grundbedürfnis dar. Wird es nicht in ausreichendem Maß befriedigt, entwickeln wir psychische Schutzmaßnahmen um entweder nicht weiter verletzt zu werden oder um von unserem Umfeld einfach nur wahrgenommen und beachtet zu werden. 

In der Schule werden wir in das nächste Korsett gepresst. Der Lehrplan bestimmt, was für uns wichtig ist zu wissen und was nicht. Und obwohl nach außen das eigenständige Denken propagiert wird, darf man ja nicht aus der Reihe tanzen, weder physisch noch intellektuell. 

Im Berufsleben sieht es nicht anders aus. Der allgemeine Tenor herrscht hier darin, dass man nur durch harte Arbeit und viel Fleiß zu etwas kommen kann – „Ohne Fleiß kein Preis“, wie es das Sprichwort so schön sagt. Also Zähne zusammenbeißen und Leistung bringen. 

Partnerschaften und Beziehungen stellen einen Tummelplatz für die unterschiedlichsten Formen von Anzügen dar. Die sehr weit verbreitete Annahme, dass der andere Mensch dafür da ist, damit es mir gut geht und ich dementsprechend mein gesamtes Wohlbefinden von den Handlungsweisen des anderen abhängig mache, führt zu einer massiven seelischen Verkrüppelung auf beiden Seiten.   

Doch würden wir uns bewusst im Spiegel betrachten, im Anzug des Schneiders Szabó, würde uns schnell deutlich werden, dass da etwas mächtig schief läuft und der Anzug, in den wir uns mühsam hineingequetscht haben, hinten und vorn nicht passt. Wir wurden zu Krüppeln gemacht durch die Erfahrungen anderer Menschen, die sie als DIE Wahrheit an uns weitervermittelten. Durch Glaubenssätze, die wir im Laufe unseres Lebens übernommen und nie wirklich hinterfragt haben. Durch das kollektive Erbe, welches auf Kampf, Hass, Gewalt, Erfolgsstreben, Habgier und Besitz aufbaut.

Wenn wir unsere Impulsivität, Kreativität und unsere Talente nur in dem Maße zum Ausdruck bringen können, wie es gerade schicklich und anderen dienlich ist, verkrüppeln wir seelisch und auch körperlich. Wir sehen bei uns selbst und auch bei anderen die Bemühungen, sich in eine vorgegebene Form zu quetschen und applaudieren ihnen und uns auch noch dafür. Was haben wir dann nicht alles getan um: das Haus finanzieren zu können, die Ehe aufrechtzuerhalten, die Kinder großzuziehen, einen ehrbaren Beruf auszuüben, materiellen Wohlstand zu erreichen usw.  Doch zu welchem Preis? Die Vorgaben die uns die Gesellschaft auferlegt sind sehr streng und eine Missachtung wird streng bestraft – mit dem Ausschluss aus der „Gemeinschaft der Normalen“.

Dann stehen wir plötzlich da, ohne den Anzug des Schneiders Szabó und sind verletzlich wie ein Krebs ohne seine Schale. 

Immer mehr Menschen schauen derweil in den Spiegel und sehen ihre verkrüppelte Gestalt in einem Anzug, der ihnen entweder zu klein ist oder an allen Ecken und Enden nicht passt. Das bewusst werden über die eigenen Verrenkungen, um irgendwo dazuzugehören oder fremde Vorgaben zu erfüllen, ist im ersten Moment angsteinflößend, auf den zweiten Blick jedoch befreiend und unumgänglich für die weitere individuelle Entwicklung. Die derzeitige Unruhe, das Chaos, die Unsicherheit – alles womit wir konfrontiert werden – sind deutliche Zeichen dafür, dass immer mehr Menschen sich nicht mehr in falsch zugeschnittene Anzüge quetschen lassen wollen. Wir wollen unserem inneren Feuer nachgehen und unserer Kreativität freien Lauf lassen. Und vor allem, wollen wir einfach wir selbst sein, mit unseren ganz individuellen Eigenschaften, Stärken und Schwächen. Denn genau diese Vielfalt macht unsere Welt zu etwas Besonderem. So nehmen wir auch den Zustand in Kauf, verletzlich zu sein. Zu guter letzt bekommen wir wieder einen Anzug geschneidert, doch dieses mal passt er uns.

In diesem Sinne – Lebe lieber Außergewöhnlich!

Deine Steffi

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert