Haben wir im letzten Artikel den Schneider Szabo in den Focus gesetzt, so beschäftigen wir uns dieses mal mit dem jungen Mann. Dieser steht in der Geschichte symbolisch für uns selbst.
Die Frage, warum er den Betrug nicht mitbekommt, haben wir schon angerissen. Doch es wäre zu oberflächlich betrachtet, würden wir sagen, dass allein die Wahrnehmung und die Gedanken dazu führen, sich in die Fänge des Schneiders zu begeben. Es gibt viele unterschiedliche Ansatzpunkte – einen davon möchte ich hier vorstellen.
Von zentraler Bedeutung ist das Motiv des jungen Mannes. Aus welchem Grund will er unbedingt diesen Anzug haben und nimmt dann auch dafür in Kauf, eine verkrüppelte Haltung einzunehmen? Ich könnte mir außerdem vorstellen, dass die Kaufentscheidung in seinem Inneren nicht so einfach stattgefunden hat, wie der Text vermuten lässt. Er wird sich sicherlich so einige Fragen gestellt haben wie: Wie werde ich wohl in diesem Anzug ankommen? Könnte es nicht auf Dauer etwas unbequem werden, wenn ich die ganze Zeit so daran herumzerren muss? Ist der Preis angemessen oder könnte ich vielleicht noch etwas Nachlass herausschlagen? Unsere Gedanken sind ständig am arbeiten und kreisen um bestimmte Themen. Doch irgendwann treffen wir eine Entscheidung. Und hier lohnt sich die Frage: Was hat jetzt zur Entscheidungsfindung beigetragen? Oder sollte ich besser fragen WER?
Auch wenn wir immer gern vom Ego sprechen, stellt dieses doch nur einen Teil von uns dar. Denn es gibt da noch viele andere Anteile, unterschiedliche einzelne Teilpersönlichkeiten, die sich zu einem größeren Komplex, eben der eigenen Person, zusammenfinden. Manche dieser inneren Personen sind uns nur zu bekannt, von anderen haben wir nicht die blasseste Ahnung. Während einige recht dominant sind, halten sich andere lieber im Hintergrund auf und melden sich erst zu Wort, wenn die Messen schon gesungen sind. Und manchmal gibt es eben auch Anteile, die sich mit dem Schneider verbündet haben und unsere Entscheidungen in eine bestimmte Richtung lenken.
Doch wie können wir uns das jetzt genau vorstellen mit den vielen Personen in uns? Dazu möchte ich euch einfach mal ein eigenes Beispiel präsentieren.
Ich hatte mich zu einem Rhetorik Seminar angemeldet. Ich fühle mich oft unsicher, wenn ich vor Publikum sprechen muss und wollte einfach an einem selbstsicheren Auftritt arbeiten.
Pünktlich eine Woche vorher hat es mich erwischt. Grippe mit Halsschmerzen und schließlich Stimmverlust. Na bravo. Doch pünktlich zum Seminarbeginn hatte ich wieder etwas Stimme.
Wir begannen das Seminar mit einer Vorstellungsrunde, welche von der Dozentin aufgezeichnet wurde. Ihr Kommentar bei der Auswertung des Filmes: ich würde sehr offen auftreten und Freude und Begeisterung ausstrahlen. Ich hätte ein sehr sonniges Wesen. Allerdings würde ich mich zu viel bewegen, unsicher auf den Beinen stehen und die Hände zu viel benutzen. (Ja, ich gebe zu, ich rede gern mit Händen und Füßen!)
Dann begannen die Übungen. Und je mehr die anderen der Gruppe auftauten, umso mehr spürte ich ein beklemmendes Gefühl und wollte bei den Übungen gar nicht mitmachen. Es fühlte sich absolut nicht richtig an. Wie auch immer, ich habe es mit Hängen und Würgen durchgezogen. Am letzten Tag hat die Dozentin wieder alles gefilmt, und dieses mal habe ich mich vorschriftsmäßig verhalten. Doch – ach, oh Wunder – da war nichts mehr übrig von der Freude und Begeisterung, die ich noch im ersten Film ausgestrahlt habe. Statt Sonne waren wohl eher Gewitterwolken angesagt. Ich war nur noch ein Schatten meiner Selbst. Und wurde dafür auch noch gelobt, weil ich jetzt RICHTIG stand!
Doch in den zwei Übungstagen war ich hin und her gerissen und mir wurden die einzelnen Anteile in mir bewusst, die sich zum Teil einen heftigen Kampf lieferten. Ich lasse einfach mal einige zu Wort kommen.
Der Rebell – „Wenn die da vorn mir erzählen will was ihrer Meinung nach richtig wäre, dann mache ich noch lange nicht mit. Ich bin doch kein Dressurpferd. Das kann sie ganz gepflegt vergessen. Bei mir landet sie damit nicht.“
Die Nette – „Ach komm, sie gibt sich so viel Mühe. Du kannst sie doch nicht vor den Kopf stoßen. Was sollen die nur alle von dir denken, wenn du da einfach nicht mitmachst?“
Die Authentische – „Nun aber mal Halblang. Hier hat niemand das Recht dazu etwas zu verlangen, was gegen meine Prinzipien verstößt. Meine Natürlichkeit ist mein Markenzeichen, es ist das Besondere an mir. Und die werde ich nicht eintauschen gegen eine Beliebigkeit und sei sie noch so psychologisch erwiesen.“
Der Strafprediger – „Also erstens, hat dieses Seminar viel Geld gekostet. Viele andere wären froh darum gewesen, hier sein zu dürfen. Außerdem sind das alles ganz ausgeklügelte Methoden und sie dienen schließlich dazu, dich besser darzustellen und zu präsentieren. Es wird nun einmal verlangt, dass du nach Außen einen bestimmten Eindruck hinterlässt. Außerdem hast du es gewollt und jetzt mecker nicht rum, sondern mach bei den Übungen mit.“
Die Sozialkritische – „Wer hat dich denn losgelassen. Kein Wunder, dass wir hier gelandet sind, wenn du immer das machst was alle anderen von dir wollen. Schau dich doch mal um. Hier laufen jede Menge „Anpasser“ rum, die Angst davor haben, ihre Einzigartigkeit zu zeigen und stattdessen lieber das machen, was die Gesellschaft von ihnen fordert. Gehört ja eh zum absoluten Zeitgeist – jeder will ein Individuum sein, schwimmt aber schön mit dem Strom mit.“
Die innere Heilerin – „Eigentlich ist dieser ganze Zustand unzuträglich. Du bist immer noch geschwächt von der Grippe und mutest dir das jetzt hier zu. Eigentlich gehörst du ins Bett. Und außerdem habe ich mir schon so etwas denken können, oder glaubst du etwa, die Erkrankung ist rein zufällig gekommen? Denk doch einfach mal an das letzte mal, wo auch plötzlich die Stimme weg war. Noch dazu in einer Situation, wo du dringend eine gebraucht hättest. Seltsam nicht wahr?“
Was ich aus diesem Seminar für mich mitgenommen habe? Das ich mich auf keinen Fall hinstelle als hätte ich einen Stock verschluckt. Das bin nicht ich und verunsichert mich nur noch mehr. Einige Übungen habe ich übernommen, die eine bessere Aussprache fördern, mehr aber auch nicht. Ihr könnt also sehen, welche Persönlichkeitsanteile in diesem Fall das Sagen hatten und sich letztendlich durchgesetzt haben.
Dieses Beispiel zeigt wie wertvoll es ist, seinen eigenen inneren Dialogen aufmerksam zu lauschen. Sie zeigen uns, wie unsere Teilpersönlichkeiten aufgestellt sind und wer in welcher Situation sagt, wo es langgeht. Alle unsere Teile wollen gesehen werden. Tun wir dies nicht bewusst, agieren sie im Hintergrund wie Spione und wir tun Dinge, wo wir uns im Nachhinein fragen, warum wir das nur gemacht haben.
Probiert es selbst aus, wer sich alles in den alltäglichsten Situationen zu Wort meldet. Ihr werdet erstaunt sein, wer da alles zum Vorschein kommt.
In diesem Sinne – Lebe Lieber Außergewöhnlich!
Deine Steffi