Die Stimmen in uns

Haben wir im letzten Artikel den Schneider Szabo in den Focus gesetzt, so beschäftigen wir uns dieses mal mit dem jungen Mann. Dieser steht in der Geschichte symbolisch für uns selbst.

Die Frage, warum er den Betrug nicht mitbekommt, haben wir schon angerissen. Doch es wäre zu oberflächlich betrachtet, würden wir sagen, dass allein die Wahrnehmung und die Gedanken dazu führen, sich in die Fänge des Schneiders zu begeben. Es gibt viele unterschiedliche Ansatzpunkte – einen davon möchte ich hier vorstellen.

Von zentraler Bedeutung ist das Motiv des jungen Mannes. Aus welchem Grund will er unbedingt diesen Anzug haben und nimmt dann auch dafür in Kauf, eine verkrüppelte Haltung einzunehmen? Ich könnte mir außerdem vorstellen, dass die Kaufentscheidung in seinem Inneren nicht so einfach stattgefunden hat, wie der Text vermuten lässt. Er wird sich sicherlich so einige Fragen gestellt haben wie: Wie werde ich wohl in diesem Anzug ankommen? Könnte es nicht auf Dauer etwas unbequem werden, wenn ich die ganze Zeit so daran herumzerren muss? Ist der Preis angemessen oder könnte ich vielleicht noch etwas Nachlass herausschlagen? Unsere Gedanken sind ständig am arbeiten und kreisen um bestimmte Themen. Doch irgendwann treffen wir eine Entscheidung. Und hier lohnt sich die Frage: Was hat jetzt zur Entscheidungsfindung beigetragen? Oder sollte ich besser fragen WER?

Auch wenn wir immer gern vom Ego sprechen, stellt dieses doch nur einen Teil von uns dar. Denn es gibt da noch viele andere Anteile, unterschiedliche einzelne Teilpersönlichkeiten, die sich zu einem größeren Komplex, eben der eigenen Person, zusammenfinden. Manche dieser inneren Personen sind uns nur zu bekannt, von anderen haben wir nicht die blasseste Ahnung. Während einige recht dominant sind, halten sich andere lieber im Hintergrund auf und melden sich erst zu Wort, wenn die Messen schon gesungen sind. Und manchmal gibt es eben auch Anteile, die sich mit dem Schneider verbündet haben und unsere Entscheidungen in eine bestimmte Richtung lenken.

Doch wie können wir uns das jetzt genau vorstellen mit den vielen Personen in uns? Dazu möchte ich euch einfach mal ein eigenes Beispiel präsentieren.

Ich hatte mich zu einem Rhetorik Seminar angemeldet. Ich fühle mich oft unsicher, wenn ich vor Publikum sprechen muss und wollte einfach an einem selbstsicheren Auftritt arbeiten.

Pünktlich eine Woche vorher hat es mich erwischt. Grippe mit Halsschmerzen und schließlich Stimmverlust. Na bravo. Doch pünktlich zum Seminarbeginn hatte ich wieder etwas Stimme.

Wir begannen das Seminar mit einer Vorstellungsrunde, welche von der Dozentin aufgezeichnet wurde. Ihr Kommentar bei der Auswertung des Filmes: ich würde sehr offen auftreten und Freude und Begeisterung ausstrahlen. Ich hätte ein sehr sonniges Wesen. Allerdings würde ich mich zu viel bewegen, unsicher auf den Beinen stehen und die Hände zu viel benutzen. (Ja, ich gebe zu, ich rede gern mit Händen und Füßen!)

Dann begannen die Übungen. Und je mehr die anderen der Gruppe auftauten, umso mehr  spürte ich ein beklemmendes Gefühl und wollte bei den Übungen gar nicht mitmachen. Es fühlte sich absolut nicht richtig an. Wie auch immer, ich habe es mit Hängen und Würgen durchgezogen. Am letzten Tag hat die Dozentin wieder alles gefilmt, und dieses mal habe ich mich vorschriftsmäßig verhalten. Doch – ach, oh Wunder – da war nichts mehr übrig von der Freude und Begeisterung, die ich noch im ersten Film ausgestrahlt habe. Statt Sonne waren wohl eher Gewitterwolken angesagt. Ich war nur noch ein Schatten meiner Selbst. Und wurde dafür auch noch gelobt, weil ich jetzt RICHTIG stand!

Doch in den zwei Übungstagen war ich hin und her gerissen und mir wurden die einzelnen Anteile in mir bewusst, die sich zum Teil einen heftigen Kampf lieferten. Ich lasse einfach mal einige zu Wort kommen.

Der Rebell – „Wenn die da vorn mir erzählen will was ihrer Meinung nach richtig wäre, dann mache ich noch lange nicht mit. Ich bin doch kein Dressurpferd. Das kann sie ganz gepflegt vergessen. Bei mir landet sie damit nicht.“

Die Nette – „Ach komm, sie gibt sich so viel Mühe. Du kannst sie doch nicht vor den Kopf stoßen. Was sollen die nur alle von dir denken, wenn du da einfach nicht mitmachst?“

Die Authentische – „Nun aber mal Halblang. Hier hat niemand das Recht dazu etwas zu verlangen, was gegen meine Prinzipien verstößt. Meine Natürlichkeit ist mein Markenzeichen, es ist das Besondere an mir. Und die werde ich nicht eintauschen gegen eine Beliebigkeit und sei sie noch so psychologisch erwiesen.“

Der Strafprediger – „Also erstens, hat dieses Seminar viel Geld gekostet. Viele andere wären froh darum gewesen, hier sein zu dürfen. Außerdem sind das alles ganz ausgeklügelte Methoden und sie dienen schließlich dazu, dich besser darzustellen und zu präsentieren. Es wird nun einmal verlangt, dass du nach Außen einen bestimmten Eindruck hinterlässt. Außerdem hast du es gewollt und jetzt mecker nicht rum, sondern mach bei den Übungen mit.“

Die Sozialkritische – „Wer hat dich denn losgelassen. Kein Wunder, dass wir hier gelandet sind, wenn du immer das machst was alle anderen von dir wollen. Schau dich doch mal um. Hier laufen jede Menge „Anpasser“ rum, die Angst davor haben, ihre Einzigartigkeit zu zeigen und stattdessen lieber das machen, was die Gesellschaft von ihnen fordert. Gehört ja eh zum  absoluten Zeitgeist – jeder will ein Individuum sein, schwimmt aber schön mit dem Strom mit.“

Die innere Heilerin – „Eigentlich ist dieser ganze Zustand unzuträglich. Du bist immer noch geschwächt von der Grippe und mutest dir das jetzt hier zu. Eigentlich gehörst du ins Bett. Und außerdem habe ich mir schon so etwas denken können, oder glaubst du etwa, die Erkrankung ist rein zufällig gekommen? Denk doch einfach mal an das letzte mal, wo auch plötzlich die Stimme weg war. Noch dazu in einer Situation, wo du dringend eine gebraucht hättest. Seltsam nicht wahr?“

Was ich aus diesem Seminar für mich mitgenommen habe? Das ich mich auf keinen Fall hinstelle als hätte ich einen Stock verschluckt. Das bin nicht ich und verunsichert mich nur noch mehr. Einige Übungen habe ich übernommen, die eine bessere Aussprache fördern, mehr aber auch nicht. Ihr könnt also sehen, welche Persönlichkeitsanteile in diesem Fall das Sagen hatten und sich letztendlich durchgesetzt haben.

Dieses Beispiel zeigt wie wertvoll es ist, seinen eigenen inneren Dialogen aufmerksam zu lauschen. Sie zeigen uns, wie unsere Teilpersönlichkeiten aufgestellt sind und wer in welcher Situation sagt, wo es langgeht. Alle unsere Teile wollen gesehen werden. Tun wir dies nicht bewusst, agieren sie im Hintergrund wie Spione und wir tun Dinge, wo wir uns im Nachhinein fragen, warum wir das nur gemacht haben.

Probiert es selbst aus, wer sich alles in den alltäglichsten Situationen zu Wort meldet. Ihr werdet erstaunt sein, wer da alles zum Vorschein kommt.

In diesem Sinne – Lebe Lieber Außergewöhnlich!

Deine Steffi

Manipulatoren erkennen

In meinem letzten Blogartikel „Von Anzügen und Verkleidungen“ habe ich euch mit der Geschichte vom Schneider Szabo bekannt gemacht.

Nun möchte ich mit euch die verschiedenen Protagonisten durchgehen – den Schneider Szabo, den jungen Mann und die zwei älteren Männer – um zu verstehen, welche Kräfte hier am Werk sind und wie wir am Besten mit ihnen umgehen können.

Beginnen möchte ich in diesem Artikel mit dem Schneider Szabo.

Von unserer Leserposition aus betrachtet ist natürlich deutlich die Hinterlist, Täuschung und Manipulation erkennbar, die er an den Tag legt.

Und wir können uns fragen: Was treibt ihn dazu, dem jungen Mann diesen Anzug aufzuschwatzen und dann auch noch auf diese Art und Weise? Geht es ihm lediglich um die Bezahlung oder steckt noch etwas anderes dahinter? Warum erkennt der junge Mann diesen Betrug nicht?

Natürlich geht es ihm um die Bezahlung, doch nicht in der Form, wie wir es annehmen. Der junge Mann bezahlt zwar offiziell mit Geld, inoffiziell aber mit seiner Seele. Er bezahlt mit seinem eigenen Willen, mit seinen Begabungen, seiner Freude, seinen Träumen, seinen Zukunftsplänen, seinen Wünschen und auch seiner Individualität. In dem Moment, wo er mit dem Schneider ins Geschäft kommt, verfällt er einer Täuschung, die so schnell und leicht ihren Schleier nicht wieder lüften wird. 

Doch wie kommt es zu diesem Geschäft?

Vielleicht will der junge Mann Eindruck schinden bei seiner Liebsten, oder er will repräsentieren. Es bedeutet ihm etwas, gut gekleidet zu sein. Und so ist er bereit, den Anzug zu jedem erdenklichen Preis zu kaufen. Der Schneider erkennt diese Schwachstelle natürlich sofort und nutzt sie schamlos aus, denn er weiß genau, in welchem Bereich die Wunde liegt. Dabei kommt ihm eine weitere menschliche Schwäche sehr gelegen. Die eingeschränkte Wahrnehmungsfähigkeit. Denn jeder Mensch lebt in seiner ganz eigenen Welt, die davon geprägt wird, wie er denkt. Er besitzt sozusagen einen Wahrnehmungsfilter, der nur die Reize durchlässt, die in Resonanz mit seinen Gedanken gehen. Für alles andere wird er regelrecht blind und taub. Dabei ist er zusätzlich felsenfest davon überzeugt, dass SEINE Wahrnehmung die WAHRHEIT wäre. Genau auf dieser Ebene ist er schließlich leicht manipulier- und täuschbar. So bekommt der Mann nicht mit, dass ihm gerade ein X für ein U vorgemacht wird. Denn er sieht nur, was er sehen will. 

Stellen wir uns nun vor, der Schneider Szabo kann nur existieren, wenn er von anderen Menschen Energie bekommt, in Form von Aufmerksamkeit, Emotionen, Gedanken usw. Er ist also eine Art Vampir, der nur leben kann, wenn er von seinen Opfern Blut bekommt. Doch wie kommt er an diese Energie, dieses Blut, heran und was macht er damit?

Möglichkeit 1: Er überzeugt, argumentiert, verspricht – wie in unserem Fall

Möglichkeit 2: Er schwingt sich energetisch auf das Gedankengut seines Gegenübers ein. Das ist eine sehr einfache und schwer zu durchschauende Methode, wenn wir bedenken, dass 95 % unserer Gedanken unbewusst ablaufen. 

Möglichkeit 3: Er bringt sein Gegenüber aus dem Gleichgewicht. Eine einfache Bemerkung über das schlechte Wetter reicht da schon aus.

Möglichkeit 4: Er spielt mit den Ängsten und Sorgen 

Möglichkeit 5: Er agiert über Schuldgefühle

Möglichkeit 6: Er erkennt die vorhandenen Komplexe und Glaubenssätze (Minderwertigkeitskomplex, Schuldkomplex, Kampfkomplex usw.) und nutzt diesen wunden Punkt aus

Möglichkeit 7: Er packt uns bei unseren Werten wie Ehrlichkeit, Gerechtigkeit, Neugier, Interesse usw. 

Je mehr Menschen ihm durch diese Möglichkeiten ihre Energie zur Verfügung stellen, umso mächtiger wird er. Deshalb nutzt er gern Themen, die polarisieren und die Gemüter aufheizen und Medien, um möglichst viele Menschen zu erreichen. Hat er sie erst einmal erreicht und sie schwingen alle auf seiner Frequenz, hat er sein Ziel erreicht – sie hängen wie die Marionetten an Fäden und er kann beliebig mit ihnen spielen. Jetzt hat er die Kontrolle über sie, kann sie manipulieren und für seine Zwecke missbrauchen. Denn er braucht ständig neue Energie um existent zu bleiben. Besonders viel Energie bekommt er durch starke Emotionen wie Hass, Wut oder Trauer. Aber auch dadurch, dass er zwei gegensätzliche Lager aufeinander loslässt

Doch nicht etwa Staats- und Regierungschefs sind es z.B., oder die Köpfe von Pharma- oder Lebensmittelindustrie die uns an den Fäden halten. Nein, denn auch sie sind nur Marionetten im Dienste jener Kraft, die ihre Energie aus den Gedanken, Emotionen, Erwartungen und Handlungen ihrer Anhänger erhält. Sie stehen also nur repräsentativ für alle, die ihre Energie in das jeweilige System einbringen. Wie innen so außen – wie außen so innen. Das sollte uns zu denken geben!

Natürlich tritt uns der Schneider Szabo nicht (nur) in dieser Gestalt entgegen. Er wählt dafür so manche trickreiche Verkleidung, die wir häufig nur sehr schwer oder gar nicht als solche erkennen, und tanzt am Ende des Tages um das Feuer wie Rumpelstilzchen, weil niemand ihm auf die Schliche gekommen ist. 

Und genau wie bei Rumpelstilzchen liegt die Lösung ebenfalls darin, ihn bei seinem Namen zu nennen, sprich, uns seiner Machenschaften bewusst zu werden und der einzige Weg, nicht an seinen Fäden zu hängen, ist, ihn nicht mehr mit unserer Energie zu füttern. Dass bedeutet aber auch, wir dürfen nicht aktiv gegen ihn kämpfen, wenn er sich zeigt oder versuchen, ihn zu ignorieren. Denn letztendlich ist es ihm egal ob er unsere Energie freiwillig bekommt, oder durch unsere auflehnende Haltung ihm gegenüber.

Wenn wir ihn erkannt und beim Namen genannt haben bleibt uns nur eins zu tun – uns umzudrehen und zu gehen. Handeln durch Nichthandeln ist hierbei das Mittel der Wahl. Es bedeutet nicht, dass uns alles egal werden sollte. Es bedeutet lediglich, dass wir genau prüfen sollten, welchen Dingen wir wie viel Aufmerksamkeit schenken und wo es wirklich wert ist unsere Energie einzubringen und in welcher Form. Das mag am Anfang vielleicht sehr schwer sein, weil wir von vielen Dingen getriggert werden und ihnen somit vermehrt Aufmerksamkeit geben. Doch mit der Zeit gehen wir mit vielen Dingen einfach nicht mehr in Resonanz und ziehen uns nicht mehr an Sachen hoch, bei denen sich andere Menschen die Köpfe eindreschen. Doch auch an dieser Stelle sollten wir immer noch äußerst wachsam sein. Denn wie gesagt, er benutzt viele Verkleidungen und tarnt sich auch gern einmal hinter dem Deckmantel der Spiritualität. 

Ich gebe zu, die Beschäftigung mit der Kraft, welche sich symbolisch hinter der Gestalt des Schneider Szabo verbirgt, ist keine leichte Sache. Doch es ist von immenser Bedeutung von ihrer Existenz zu wissen, denn genau diese Kraft ist es, die uns in allen Lebensbereichen in engen Grenzen gefangen hält und uns daran hindert, unser eigenes Potenzial zu entwickeln. Sie zwingt uns statt dessen, lieber fremde Götzen anzubeten, die Ziele anderer Menschen zu verfolgen statt unsere eigenen, unsere Träume immer weiter in die Zukunft zu verlegen, zu schimpfen, zu jammern und uns als Opfer zu sehen und nicht zuletzt durch unser oft unbedachtes Handeln ein menschen- und umweltfeindliches System zu unterstützen. Und da wir jetzt wissen, dass dieses System nur existieren kann, weil es durch entsprechendes Denken und Handeln aufgebaut und am Leben erhalten wird, wissen wir auch, was zu tun ist…

In diesem Sinne – Lebe lieber Außergewöhnlich!

Deine Steffi

Von Anzügen und Verkleidungen

Ein Mann kam zu Szabó dem Schneider und probierte seinen neuen Anzug an. Als er sich vor den Spiegel stellte, fiel ihm auf, dass der Saum der Weste an einer Seite ein bisschen schief war.

„Oh“, sagte der Schneider, „das soll uns gar nicht weiter kümmern. Hier, sie ziehen das kürzere Ende einfach mit der linken Hand nach unten, dann sieht niemand den Unterschied.“

Während der Kunde die Weste nach unten hielt, fiel ihm auf, dass das Revers der Jacke sich herunterrollte, anstatt flach zu liegen. „Oh, das?“ rief der Schneider. „Das ist nicht der Rede wert. Sie neigen den Kopf ein wenig zur Seite und drücken den Kragen mit dem Kinn nach unten. So…ja. Wunderbar!“

Der Kunde tat, wie ihm geheißen, aber dann merkte er, dass der Schritt der Hose ein bisschen knapp und der Hosenbund zu hoch geschnitten war.

„Ach, das macht doch nichts“, meinte der Schneider. „Sie ziehen den Schritt einfach mit der rechten Hand ein wenig nach unten, und dann ist alles in bester Ordnung.“ Der Mann stimmte zu und kaufte den Anzug.

Am nächsten Tag humpelte der Mann in seinem neuen Anzug durch den Stadtpark: Kinn schräg auf dem Revers, die linke Hand an der Weste zerrend, die rechte am Schritt der Hose; bei seinem Anblick hielten zwei alte Männer in ihrem Schachspiel inne und schauten sich an, wie merkwürdig er sich fortbewegte.

„O mein Gott“, murmelte der eine. „Schau dir den armen Krüppel an…“

Der zweite starrte dem Humpelnden sinnend nach und sagte: „Ja, dass ein Mensch so verwachsen ist, kann einem leid tun. Ich frage mich nur, wo er den schicken Anzug her hat.“

(aus „Die Wolfsfrau“ von Clarissa Pinkola Estés)

Wir alle haben mindestens einen Anzug vom Schneider Szabó in unserem Schrank hängen. Einige von uns tragen ihn täglich, andere zu bestimmten Anlässen. Das Bedürfnis, nach außen gut da zu stehen und den gesellschaftlichen und zwischenmenschlichen Normen und Regeln zu entsprechen, egal wie sehr wir uns innerlich dafür verrenken müssen, dürfte jedem vertraut sein.  

Vielleicht fallen dir spontan bestimmte Situationen ein, wo du gezielt in den Schrank greifst und dir einen Anzug herausnimmst. Das ist auch nicht zwangsläufig etwas schlechtes. Wir haben uns mit der Zeit so daran gewöhnt und fühlen uns in diesem Anzug sicher. Er ist zu unserer zweiten Haut geworden und hilft uns, schwierige Situationen leichter durchzustehen. Auf der anderen Seite suggeriert er uns allerdings, dass es notwendig sei, sich für Erfolg, Ansehen, Wichtigkeit, eine funktionierende Partnerschaft oder Karriere in eine Haltung zu zwängen, die im Grunde nicht unserer eigenen entspricht. 

Das Schlimme daran ist jedoch, dass unsere Umwelt unsere verkrüppelte Haltung deutlich wahrnimmt, es allerdings zum guten Ton gehört, darüber hinweg zu sehen, zu schweigen oder noch schlimmer, es zu verharmlosen. Letztendlich wollen wir aber auch nicht darauf aufmerksam gemacht werden. Denn tief in unserem Inneren spüren wir die Diskrepanz zwischen dem, wie wir wirklich sind und sein wollen und dem, wie wir zu sein haben. So wirkt der Anzug wie ein Deckel auf einem Vulkan, der durch Bemerkungen von Außen zum Ausbruch gebracht werden kann. Wir lernen zu pauschalisieren, zu bagatellisieren, abzustreiten, zu verharmlosen oder auszuweichen, nur um ja nicht mit unserer Wunde konfrontiert zu werden und den Vulkan ausbrechen zu lassen. 

Viel öfter greifen wir jedoch unbewusst in den Schrank und holen uns den Anzug heraus, weil wir es einfach gewohnt sind. Es passiert ganz automatisch ohne das wir groß darüber nachdenken. Schließlich wurden wir im Laufe unseres Lebens darauf konditioniert, es möglichst allen recht zu machen, bloß nicht aufzufallen und immer schön brav alles zu tun, was gesellschaftlich anerkannt ist. So wissen wir oft gar nicht von den vielen kreativen Ideen und Talenten, die tief in uns schlummern.

Von unseren Eltern haben wir von Klein auf gesagt bekommen, wie wir uns zu benehmen haben, was wir machen dürfen und was nicht. Wir haben schon sehr früh erkannt, was und wie wir die Dinge machen müssen, um Bestätigung und Anerkennung aus unserem Umfeld zu bekommen, denn die persönliche Aufmerksamkeit und Beachtung stellt ein tiefes menschliches Grundbedürfnis dar. Wird es nicht in ausreichendem Maß befriedigt, entwickeln wir psychische Schutzmaßnahmen um entweder nicht weiter verletzt zu werden oder um von unserem Umfeld einfach nur wahrgenommen und beachtet zu werden. 

In der Schule werden wir in das nächste Korsett gepresst. Der Lehrplan bestimmt, was für uns wichtig ist zu wissen und was nicht. Und obwohl nach außen das eigenständige Denken propagiert wird, darf man ja nicht aus der Reihe tanzen, weder physisch noch intellektuell. 

Im Berufsleben sieht es nicht anders aus. Der allgemeine Tenor herrscht hier darin, dass man nur durch harte Arbeit und viel Fleiß zu etwas kommen kann – „Ohne Fleiß kein Preis“, wie es das Sprichwort so schön sagt. Also Zähne zusammenbeißen und Leistung bringen. 

Partnerschaften und Beziehungen stellen einen Tummelplatz für die unterschiedlichsten Formen von Anzügen dar. Die sehr weit verbreitete Annahme, dass der andere Mensch dafür da ist, damit es mir gut geht und ich dementsprechend mein gesamtes Wohlbefinden von den Handlungsweisen des anderen abhängig mache, führt zu einer massiven seelischen Verkrüppelung auf beiden Seiten.   

Doch würden wir uns bewusst im Spiegel betrachten, im Anzug des Schneiders Szabó, würde uns schnell deutlich werden, dass da etwas mächtig schief läuft und der Anzug, in den wir uns mühsam hineingequetscht haben, hinten und vorn nicht passt. Wir wurden zu Krüppeln gemacht durch die Erfahrungen anderer Menschen, die sie als DIE Wahrheit an uns weitervermittelten. Durch Glaubenssätze, die wir im Laufe unseres Lebens übernommen und nie wirklich hinterfragt haben. Durch das kollektive Erbe, welches auf Kampf, Hass, Gewalt, Erfolgsstreben, Habgier und Besitz aufbaut.

Wenn wir unsere Impulsivität, Kreativität und unsere Talente nur in dem Maße zum Ausdruck bringen können, wie es gerade schicklich und anderen dienlich ist, verkrüppeln wir seelisch und auch körperlich. Wir sehen bei uns selbst und auch bei anderen die Bemühungen, sich in eine vorgegebene Form zu quetschen und applaudieren ihnen und uns auch noch dafür. Was haben wir dann nicht alles getan um: das Haus finanzieren zu können, die Ehe aufrechtzuerhalten, die Kinder großzuziehen, einen ehrbaren Beruf auszuüben, materiellen Wohlstand zu erreichen usw.  Doch zu welchem Preis? Die Vorgaben die uns die Gesellschaft auferlegt sind sehr streng und eine Missachtung wird streng bestraft – mit dem Ausschluss aus der „Gemeinschaft der Normalen“.

Dann stehen wir plötzlich da, ohne den Anzug des Schneiders Szabó und sind verletzlich wie ein Krebs ohne seine Schale. 

Immer mehr Menschen schauen derweil in den Spiegel und sehen ihre verkrüppelte Gestalt in einem Anzug, der ihnen entweder zu klein ist oder an allen Ecken und Enden nicht passt. Das bewusst werden über die eigenen Verrenkungen, um irgendwo dazuzugehören oder fremde Vorgaben zu erfüllen, ist im ersten Moment angsteinflößend, auf den zweiten Blick jedoch befreiend und unumgänglich für die weitere individuelle Entwicklung. Die derzeitige Unruhe, das Chaos, die Unsicherheit – alles womit wir konfrontiert werden – sind deutliche Zeichen dafür, dass immer mehr Menschen sich nicht mehr in falsch zugeschnittene Anzüge quetschen lassen wollen. Wir wollen unserem inneren Feuer nachgehen und unserer Kreativität freien Lauf lassen. Und vor allem, wollen wir einfach wir selbst sein, mit unseren ganz individuellen Eigenschaften, Stärken und Schwächen. Denn genau diese Vielfalt macht unsere Welt zu etwas Besonderem. So nehmen wir auch den Zustand in Kauf, verletzlich zu sein. Zu guter letzt bekommen wir wieder einen Anzug geschneidert, doch dieses mal passt er uns.

In diesem Sinne – Lebe lieber Außergewöhnlich!

Deine Steffi